Widerstand der Gegenwart
Die unmittelbare Aktualität eines Geschehens, eine aus dem Zustand der Möglichkeit in den der Wirklichkeit überführte Handlung, stellt tatsächlich für die reflektierende Wahrnehmung eine ausnahmslose Überforderung dar. Der wirklich rätselhafte Zustand der Gegenwärtigkeit lässt unser Bewusstsein unausweichlich ins Leere greifen. Zur unmittelbaren Gegenwart eine erlebbare Distanz herzustellen ist nahezu unmöglich. Ein autonomer innerer Kern des Gegenwärtigen verweigert sich der kontrollierenden Steuerung durch das Wahrnehmungsvermögen. Das Veranschaulichte des Gegenwärtigen könnte manipulierend eine entfremdete Gegenwart erzeugen, welche vielleicht sogar imstand wäre, die Kraft ihrer bisher noch unangetasteten Lebendigkeit herabzusetzen.
Der Körper ist immer im Hier und Jetzt anwesend. Auch wenn er in der Lage ist, den Ort zu wechseln, das Haus zu verlassen, die Straße zu überqueren, kurz, sich bewegend der Illusion der Freiheit hinzugeben, ändert es an der Tatsache seiner Gebundenheit an sich selbst nichts. Und selbst die Wahrnehmung dieser Gebundenheit ist nicht neutral und deshalb auch nicht immer schmerzfrei, wenn das reflektierende Bewusstsein seine ausweglose Lage in und mit dem Körper zu existieren begreift. Der Körper zwingt die zeitliche und räumliche Schwerelosigkeit des Geistes aufs Neue in seine Ausgangsposition der Gegenwärtigkeit zurück. Bildlich gesprochen wäre es der Trägheits- oder Ruhepunkt, von dem sich das unruhige Bewusstsein wieder zu entfernen sucht. Dieser an die Gegenwart fixierte Körper kann nicht so ungezogen sein wie der Geist und sich durch eine Projektion aus der Affäre ziehen. Der Körper muss bleiben, er muss in der Gegenwart verharren.
Striche, sichtbare, nachvollziehbare, lesbare Linien vermitteln noch über lange Zeiträume eine unverwechselbare und betroffen machende Präsenz ihrer selbst und folgerichtig – mal schemenhafter, mal konkreter – auch eine Vorstellung der dahinter stehenden Person. Im unmittelbar gezogenen, noch mehr im „verunglückten“ unvollständigen Strich, im noch nachfühlbaren Druck des Stiftes auf dem Papier wird ein aufmerksamer Betrachter dem Wiederaufleben der oder des Ausführenden noch einmal ansichtig. Die Zeit scheint an diesem Punkt stehen geblieben zu sein, und nicht das Abgebildete ist jetzt das Wirkliche, sondern die Abbildung. Alles Vergangene war einmal Gegenwart, und es trifft auch zu, dass es noch gegenwärtig ist. Es enthält einen Hinweis, der nicht nur Verweis der Vergangenheit auf die Gegenwart ist, sondern auch entgegengesetzt eine Mitteilung der tatsächlichen Gegenwart auf eine Welt, in der die Vergangenheit mit der Gegenwart simultan ist. Das Bild als simultanes zeitliches wie auch räumliches Gebilde dient der Persönlichkeit als Stempel, welcher den gegenwärtigen Abdruck seiner unmittelbaren Existenz dokumentiert.
Ein Strich ist sofort da, man kann ihn nicht machen, man soll ihn aus dem eigenen Rhythmus heraus annehmen.
Es ist eine Form des bedingungslosen Sich-Einlassens und der anhaltenden Verausgabung mit dem Ziel, das analytisch kontrollierende, Besitz ergreifende Denken aus der Bahn zu werfen. Angelehnt an das regellose Leben, welches ohne ersichtlichen Grund, ohne kalkulierte Sicherheit, ohne rechtfertigenden Vorwand agiert: ganz einfach Zeuge der Mächtigkeit des Augenblicks in seinem Wandel zu sein.
Karl Schleinkofer, (Katalogtext 2015)
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