Karl Schleinkofer, Passau, April 2016

Widerstand der Gegenwart

Die unmittelbare Aktualität eines Geschehens, eine aus dem Zustand der Möglichkeit in den der Wirklichkeit überführte Handlung, stellt tatsächlich für die reflektierende Wahrnehmung eine ausnahmslose Überforderung dar. Der wirklich rätselhafte Zustand der Gegenwärtigkeit lässt unser Bewusstsein unausweichlich ins Leere greifen. Zur unmittelbaren Gegenwart eine erlebbare Distanz herzustellen ist nahezu unmöglich. Ein autonomer innerer Kern des Gegenwärtigen verweigert sich der kontrollierenden Steuerung durch das Wahrnehmungsvermögen. Das Veranschaulichte des Gegenwärtigen könnte manipulierend eine entfremdete Gegenwart erzeugen, welche vielleicht sogar imstand wäre, die Kraft ihrer bisher noch unangetasteten Lebendigkeit herabzusetzen.

Der Körper ist immer im Hier und Jetzt anwesend. Auch wenn er in der Lage ist, den Ort zu wechseln, das Haus zu verlassen, die Straße zu überqueren, kurz, sich bewegend der Illusion der Freiheit hinzugeben, ändert es an der Tatsache seiner Gebundenheit an sich selbst nichts. Und selbst die Wahrnehmung dieser Gebundenheit ist nicht neutral und deshalb auch nicht immer schmerzfrei, wenn das reflektierende Bewusstsein seine ausweglose Lage in und mit dem Körper zu existieren begreift. Der Körper zwingt die zeitliche und räumliche Schwerelosigkeit des Geistes aufs Neue in seine Ausgangsposition der Gegenwärtigkeit zurück. Bildlich gesprochen wäre es der Trägheits- oder Ruhepunkt, von dem sich das unruhige Bewusstsein wieder zu entfernen sucht. Dieser an die Gegenwart fixierte Körper kann nicht so ungezogen sein wie der Geist und sich durch eine Projektion aus der Affäre ziehen. Der Körper muss bleiben, er muss in der Gegenwart verharren.

Striche, sichtbare, nachvollziehbare, lesbare Linien vermitteln noch über lange Zeiträume eine unverwechselbare und betroffen machende Präsenz ihrer selbst und folgerichtig – mal schemenhafter, mal konkreter – auch eine Vorstellung der dahinter stehenden Person. Im unmittelbar gezogenen, noch mehr im „verunglückten“ unvollständigen Strich, im noch nachfühlbaren Druck des Stiftes auf dem Papier wird ein aufmerksamer Betrachter dem Wiederaufleben der oder des Ausführenden noch einmal ansichtig. Die Zeit scheint an diesem Punkt stehen geblieben zu sein, und nicht das Abgebildete ist jetzt das Wirkliche, sondern die Abbildung. Alles Vergangene war einmal Gegenwart, und es trifft auch zu, dass es noch gegenwärtig ist. Es enthält einen Hinweis, der nicht nur Verweis der Vergangenheit auf die Gegenwart ist, sondern auch entgegengesetzt eine Mitteilung der tatsächlichen Gegenwart auf eine Welt, in der die Vergangenheit mit der Gegenwart simultan ist. Das Bild als simultanes zeitliches wie auch räumliches Gebilde dient der Persönlichkeit als Stempel, welcher den gegenwärtigen Abdruck seiner unmittelbaren Existenz dokumentiert.

Ein Strich ist sofort da, man kann ihn nicht machen, man soll ihn aus dem eigenen Rhythmus heraus annehmen.
Es ist eine Form des bedingungslosen Sich-Einlassens und der anhaltenden Verausgabung mit dem Ziel, das analytisch kontrollierende, Besitz ergreifende Denken aus der Bahn zu werfen. Angelehnt an das regellose Leben, welches ohne ersichtlichen Grund, ohne kalkulierte Sicherheit, ohne rechtfertigenden Vorwand agiert: ganz einfach Zeuge der Mächtigkeit des Augenblicks in seinem Wandel zu sein.

Karl Schleinkofer, (Katalogtext 2015)

Kurzbiografie
•    1972 bis 1978 Studium an der Akademie der Bildenden Künste München bei Prof. Hermann Kaspar und Prof. Hans Baschang
•    Lebt und arbeitet in Passau

Ausstellungen (Auswahl)
•    1986 Galerie Ariadne, Wien
•    1991 Galerie van de Loo, München, (Kat.)
•    1994 Hirschwirtscheuer, Stiftung Würth, Künzelsau, (Kat.)
•    1997 Museum Moderner Kunst, Stiftung Wörlen, Passau, (Kat.)
•    2000 Kunstverein Passau (in Zusammenarbeit mit dem Kunstreferat der Diözese Linz),
»Katábasis – Der gespaltene Raum«, (Kat.)
•    2004 Galerie Arte Giani, Frankfurt, »Kollektive«, (Kat.)

Stipendien
•    1988 Graduiertenstipendium der Akademie der Bildenden Künste München
•    2000 Stipendiat der Villa Concordia Bambergsad

Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl)
•    1986 Leerer Beutel, Regensburg, »Heimat deine Sterne«, (Kat.)
•    1990 Villa Stuck, München, »Am Anfang war das Bild«, (Kat.)
•    1995 Museum Ludwig, Budapest, »Die Sammlung Würth«, (Kat.)
•    1996 Rupertinum, Salzburg, »Karl Schleinkofer und Lun Tuchnowski, Zeichnungen und Skulpturen«
•    2000 Bayerische Akademie der Schönen Künste, München, »Unterwegs – Stipendiaten der Akademie« (Kat.)
•    2005 »Universitas Masgistrorum et Discipulorum«, Ausstellung des Lehstuhls für Kunsterziehung an der Universität Passau

Preise/Auszeichnungen
•    1996 Herbert Boekl-Preis zusammen mit Alberto di Fabio, zuerkannt von Cy Twombly und dem Rupertinum Salzburg
•    1999 Jahrespreisträger für Bildende Kunst der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München
•    2005 Kulturpreis der Dr. Franz und Astrid Ritter-Stiftung für Bildende Kunst Stipendien
•    1988 Graduiertenstipendium der Akademie der Bildenden Künste München
•    2000 Stipendiat der Villa Concordia Bamberg

Lehrtätigkeiten
•    1979 bis 1983 Assistent bei Prof. Hans Baschang, Akademie der Bildenden Künste München
•    1983 bis 1986 Lehrbeauftragter für »Druckgraphik«, »Freies Zeichnen« und »Malerei« am Lehrstuhl für Kunsterziehung Prof. Lankes, Universität Passau
•    1996 Lehrstuhlvertretung für Prof. Erwin Gross an der Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe
•    Seit 1998 Lehrbeauftragter für »Zeichnerisches Gestalten, Theorie und Praxis«an der Professur für Kunsterziehung, Prof. Dr. Oswald Miedl (Seit 2006: Prof. Dr. Alexander Glas)
•    2002 Lehrbeauftragter an der Sommerakademie Burghausen